Geschichte der Stadt Milet
Milets Geschichte reicht weit über das hinaus, was aus schriftlichen Überlieferungen bekannt ist. Erste archäologisch nachgewiesene Siedlungsspuren stammen aus dem Chalkolithikum. Die frühesten baulichen Strukturen ließen sich auf dem flachen Hügel beim Athenatempel nachweisen. Dort konnten acht bronzezeitliche Phasen, von dem späten Chalcolithikum bis zum Ende der mykenischen Zeit, belegt werden. In antiken Schriftquellen heißt es, Milet sei entweder von einem Miletos von Kreta, oder von Sarpedon aus dem kretischen Ort Miletos an der Stelle einer karischen Siedlung gegründet worden. Für die Mykener war Milet die einzige wichtige Siedlung in Kleinasien. Am Ende des 14. Jahrhunderts wurde die Siedlung von den Hethitern das erste Mal, ca. 1200 v. Chr. dann ein zweites Mal erobert. Die Hethiter nannten den Ort schon unter mykenischer Herrschaft Milawanda. Kurz nach der zweiten Eroberung durch die Hethiter wurde die Stadt zerstört.
Laut historischer Überlieferung sei Milet im 11. Jahrhundert von ionischen Kolonisten neu gegründet worden. Erst die archaische Zeit (8.-6. Jh. v. Chr.) ist archäologisch wieder gut nachvollziehbar, denn in dieser Zeit wuchs Milet zu einer der wichtigsten Städte der Ägäis heran. Wirtschaftlich war die Stadt so mächtig, dass von dort aus zahlreiche – oft werden über 80 genannt – Kolonien gegründet wurden. Auch militärisch und politisch hatte sie eine Vormachtstellung inne und galt als Hautstadt Ioniens (Ioniae caput). Die milesischen Tyrannen Histiaios und Aristagoras begannen im Jahr 499 v. Chr. den ionischen Aufstand gegen die lange andauernde Perserherrschaft, in dessen Folge Milet 494 v. Chr. besiegt wurde. Der antike Geschichtsschreiber Herodot berichtet von der vollständigen Zerstörung Milets und der Vernichtung und Versklavung ihrer Bewohner. Milet sei nach diesem Ereignis „leer von Milesiern“ gewesen. In der Forschung ist das Ausmaß der Zerstörung jedoch bis heute sehr umstritten.
Das Datum wird dennoch als einschneidendes Ereignis in der Stadtgeschichte allgemein anerkannt. Mit ihm schwand auch die Vormachtstellung Milets. Im 5. Jahrhundert musste die Stadt als Mitglied im Attisch-Delischen Seebund einen sehr hohen Beitrag zahlen und stand nach einem gescheiterten Abfallversuch Anfang der 2. Hälfte des 5. Jahrhunderts unter athenischer Besatzung. Erst im Ionischen Krieg gelang es Milet, sich aus dem Attisch-Delischen Seebund zu lösen, woraufhin die Stadt zu einer spartanischen Basis wurde.
Der Stadtplan von Milet (Miletgrabung 2022)
Im Jahr 334 v. Chr. eroberte Alexander der Große Milet, die Stadt blieb aber nach dem Zusammenbruch des Alexanderreichs weitgehend unabhängig von den Diadochenreichen. Diese Unabhängigkeit endete 133 v. Chr. mit der Schenkung des pergamenischen Reiches an Rom, womit Milet Teil der Provinz Asia wurde.
Als römische Stadt genoss Milet zwar keine besonderen Vorzüge, war aber wirtschaftlich gut gestellt, sodass in dieser Zeit zahlreiche prächtige Neubauten in der Stadt entstanden. Es gab dort außerdem sowohl eine jüdische als auch eine frühe christliche Gemeinde. Mitte des 3. Jahrhunderts wurde aufgrund des Goteneinfalls die Neuerrichtung der Stadtmauer notwendig.
Zwischen dem 4. und 7. Jahrhundert n. Chr. löste das Christentum die antiken Kulte als Mehrheitsreligion ab. Ab dem 6. Jahrhundert war Milet Erzbistum. Im 7. Jahrhundert führten Invasionen persischer und später arabischer Armeen dazu, dass eine neue Stadtmauer gebaut wurde, die das Stadtgebiet verkleinerte. Über die Besiedlung in der friedlicheren Zeit zwischen dem 9. und dem 11. Jahrhundert ist nur wenig bekannt. Erst die neue Bedrohung durch die Türken sorgte wieder für die Notwendigkeit einer Befestigung.
In Anlehnung an das gut zu verteidigende Theaterkastell und die noch anstehenden, palastartigen Ruinen wurde der Ortsname von Milet zu Palatia, aus dem sich später der auch heute noch für die naheliegende moderne Ortschaft gebräuchliche Name Balat entwickelte. Im 13. Jahrhundert gelang es den Türken, Palatia zu erobern. In der Zeit des Menteşe Beyliks war Milet ein kleiner, aber bedeutender Fluss-Hafenort mit zahlreichen weitreichenden Handelskontakten und der Residenz eines venezianischen Konsuls.
Archäologie und Landwirtschaft in Milet. Quelle: L. Steinmann 2021
Im 15. Jahrhundert wurden Balat und seine Umgebung schließlich in das osmanische Reich eingegliedert. Hiernach verlor die Siedlung, die im 16. Jh. noch etwa 3500 Einwohner*innen gehabt haben dürfte, ihre überregionale Bedeutung. Lange Zeit befand sich das Dorf Balat (heute als Alt-Balat oder „eski Balat“ bezeichnet) noch innerhalb der lange vergessenen Stadtmauern des antiken Milet. Infolge eines schweren Erdbebens im Jahr 1955 wurde das Dorf an seinen heutigen Standort etwa 1,5km nach Süden verlegt. Heute ist Balat ein lebendiges Dorf mit einigen kleinen Geschäften. Viele seiner über 1000 Einwohner*innen sind in den zahlreichen Olivenhainen, Feldern und Gärten in der Umgebung tätig, oder führen ihre Schaf- und Rinderherden durch die milesische Chora. Einige arbeiten seit langer Zeit bei den verschiedenen Ausgrabungsprojekten mit - sodass die Grabung selbst mittlerweile fester Bestandteil der Geschichte des modenen Balats geworden ist.
Text: Mark Ohlrogge