Athenatempel
Der Athenatempel von Milet lag einst auf einer kleinen, nach Westen auslaufenden Landzunge südlich des Theaterhafens. Heute ist er nur schwer zu erreichen, da er in einem durch die tiefen Schnitte der Grabung entstandenen, von Tamarisken umgebenen Tümpel inmitten moderner Felder und Olivenhaine liegt. Folgt man den Feldwegen, die auf der Straße vom Museum zum Theater nach links abzweigen, kann man ihn dennoch leicht finden.
Durch die Lage in einem Tümpel ist meist nur der jüngere Athenatempel zu erkennen. Südlich der Fundamente hatte jedoch eine Tiefgrabung in den Jahren 1994 bis 2004 einen der ältesten Siedlungsplätze Milets enthüllt. Bei niedrigem Wasserstand kann man dort einige Mauerzüge erkennen. Die ältesten Funde an dieser Stelle stammen aus dem 4. Jt. v. Chr., dem späten Chalkolithikum (auch Kupferzeit genannt). Schon damals spielte Milet eine Rolle in den Handelsverbindungen zwischen der Ägäis und – über den Golf von Milet und das Mäandertal – dem Inneren Anatoliens. Die Handelsbeziehungen der Siedlung werden in den darauffolgenden Siedlungsphasen der frühen Bronzezeit (etwa 3. Jt. v. Chr.) und der Mittleren Bronzezeit (ca. 2000 – 1700 v. Chr.) noch deutlicher. Aus dem 2. Jt. v. Chr. stammen zahlreiche minoische Funde (wie z.B. diese Siegel aus der Grabung am Athenatempel). Wahrscheinlich hängt das damit zusammen, dass damals auf Kreta die ersten ‚Alten Paläste’ und die sie umgebenden urbanen Zentren entstanden und der Bedarf an Metallen stieg. Die damaligen Bewohner Kretas (die wir heute Minoer nennen) organisierten den Handel mit dem metallreichen Kleinasien neu. Ca. 1700 – 1450 v. Chr. war Milet geradezu kretisch-minoisch dominiert, inklusive eines minoischen Heiligtums mit einem Lehmziegelaltar in einem offenen Hof. Angrenzende Gebäude waren in der typisch kretischen Weise mit Fresken geschmückt. Hier liegt der Ursprung des Athenaheiligtums. Im Laufe des 15. Jh. v. Chr. wurde der Einfluss Kretas durch den der Peloponnes ersetzt, indem die frühen Griechen, die wir heute nach dem berühmten Fundort in der Nordostpeloponnes Mykener nennen, die minoischen Kreter in der Vorherrschaft über die Ägäis ablösten – so auch in Milet.
So entstand das in den hethitischen Quellen mehrfach erwähnte Millawanda, ein Vasall von Ahhijawa, einem Reich in Griechenland, das die Hethiter zeitweise als ein ihnen gleichrangiges Großkönigtum anerkannten. Über Millawanda mischte sich Ahhijawa immer wieder in die politischen Auseinandersetzungen im westlichen Kleinasien ein und unterstützte dabei die Gegner der Hethiter. Ca. 1315 v. Chr. kam es zur Eroberung und Zerstörung Millawandas durch die Truppen des hethitischen Großkönigs Mursili II. Eine entsprechende Zerstörungsschicht konnte bei den Ausgrabungen in Milet identifiziert werden. Gegen die Bedrohungen und Unruhen gegen Ende des 2. Jt. v. Chr. errichtete man eine große Festungsmauer hethitischen Typs mit Bastionen, von deren Fundament ein Teil am Athenatempel freigelegt wurde. Kurz nach ihrer Errichtung wurde Millawanda erobert und zerstört. Danach ließen die Bewohner zwar die Befestigungsmauer in Trümmern liegen, stellten andere Bauten aber wieder her, vor allem das sog. Megaron, das schon früher ein Kultbau gewesen war. Jetzt wurde daneben auf der Ruine der Befestigungsmauer das ‚Kultmal’ errichtet, ein ovaler Altar aus Feldsteinen mit einer Umfriedung. Spätestens in der geometrischen Zeit im 8. Jh. v. Chr. erbaute man auf den Fundamenten des Megaron einen Tempel, der später vom sog. Älteren Athenatempel ersetzt wurde.
Dieser war West-Ost-orientiert und stammt aus der archaischen Zeit (genauer: um 600 v. Chr.). Es handelt sich hier um die bescheidenen Überreste eines der frühesten Marmorbauten Ioniens. Erhalten hat sich nur die Vorhalle (der sog. Pronaos) und der Anfang eines Innenraumes (der sog. Cella). In der Mitte des Raumes gab es eine Reihe aus Säulen, die das Dach trugen. Er wurde jedoch von einem 18 auf 30m messenden, großen Tempelfundament aus Gneisblöcken überbaut, das noch heute im Tümpel zu sehen ist.
Dieser sog. Jüngere Athenatempel stammt aus der Zeit um 500 v. Chr., als Milet in voller Blüte stand und die Zierde Ioniens war, wie es an einer berühmten Stelle des großen Historikers Herodots heißt (5, 28), der gegen Mitte des 5. Jh. v. Chr. die Geschichte der Kriege zwischen Persern und Griechen erzählte. Während im Jahr 494 v. Chr. die Perser Milet eroberten, war der Athenatempel noch im Bau. Es haben sich nur wenige Fragmente von Architekturteilen gefunden.
Text: Julien Zurbach / Lisa Steinmann / nach W.-D. Niemeier in Niewöhner 2016
Literaturhinweise
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A. von Gerkan, Kalabaktepe, Athenatempel und Umgebung, Milet 1,8 (Berlin 1925)
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W. Held, Das Heiligtum der Athena in Milet, Milesische Forschungen 2 (Mainz 2000)
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W.-D. Niemeier, Minoans, Mycenaeans, Hittites and Ionians in Western Asia Minor. New Excavations at Miletus/Millawanda, in: A. Villing (Hrsg.), The Greeks in the East, British Museum Research Publications 157 (London 2005) 1–36
- W.-D. Niemeier, in: P. Niewöhner, Milet/Balat (Istanbul 2016) 134–137