Das Dionysosheiligtum in der Sakrallandschaft von Milet (Gerda Henkel Stiftung)
Das hellenistische Dionysosheiligtum liegt im Stadtzentrum der antiken Metropole Milet und füllt die südliche Hälfte einer Insula des Straßenrasters der Stadt aus. In byzantinischer Zeit wurde es durch die Michaelskirche überbaut. Seit seiner Entdeckung sind mittlerweile über 100 Jahre vergangen, aber erst mit dem Abschluss dieses Projektes wird eine umfassende Auswertung der Grabungsergebnisse vorgelegt. Im Vergleich zu den vorangegangenen Kurzberichten von Wolfgang Müller-Wiener hat sich durch die Auswertung von Stratigraphie und Funden die Interpretation der frühesten Phasen erheblich geändert. Für das hellenistische Dionysosheiligtum wird die bisherige Datierung nun durch Funde untermauert, und die Rekonstruktion in ausführlicher und aktualisierter Form unter Einbeziehung aller erhaltenen Architekturglieder vorgelegt.
Modell der zahlreichen Profilzeichnungen und Pläne im Areal der Michaelskirche bzw. des Dionysostempels
Die frühesten Mauerstrukturen im Gelände sind spätarchaisch oder frühklassisch zu datieren. In der zweiten Hälfte des 5. Jh. v. d. Z. ist in der Halbinsula mit der Mauer Oα zum ersten Mal die Ausrichtung des im Norden Milets für Hellenismus und Kaiserzeit gut bekannten Straßenrasters zu fassen. Während sich die Bebauung in diesen beiden frühesten Phasen aufgrund ihrer Geringfügigkeit nicht deuten ließ, bietet die Phase 3/4, die um die Wende zum 4. Jh. v. d. Z. errichtet wurde und ab dem Beginn dieses Jahrhunderts in Benutzung war, bessere Ansätze für eine Interpretation. Die zusammenhängenden Mauerstrukturen werden als Wohnhaus gedeutet, das sich - ähnlich eines anderen Wohnhausbefundes im Süden Milets nahe des Athenatempels - in einem Viertel der gesamten Insula erstreckt. Es deutet sich an, dass die Bebauung des östlichen Insulaviertels einen gespiegelten Grundriss aufweist, obwohl hier weniger Schnitte geöffnet und daher nur eine geringe Anzahl von Fundamenten angetroffen wurden. Während die zahlreichen aufgenommenen Funde größtenteils aus Auffüllungsschichten stammen, liefert die Zusammensetzung einiger relevanter Befunde Unterstützung für die Deutung als Wohnhauskontext. Im Rahmen des Projektes wird auch ungeachtet von der Bedeutung des Materials für seinen unmittelbaren Kontext erstmals eine große Menge klassischer Fundkeramik aus Milet vorgelegt.
Das Wohnhaus wird abgerissen und das Gelände aufgeschüttet, als um 276/5 v. d. Z. in der Halbinsula schließlich das Temenos des Dionysos mit dem zentralen Naiskos errichtet wird. Die schon lange bekannte Datierung des Tempels, die über eine Stephanephorennennung in einer am Tempel angebrachten Inschrift gewonnen wurde, wird nun von den Funden aus einer Baugrube bestätigt. Aufgrund vorangegangener Grabungsaktivitäten lassen sich außer dieser nur wenige Befunde direkt mit diesem Heiligtum verbinden. Eine Ausnahme hiervon bildet die sog. "Abfallgrube", deren Inhalt von Kultfeierlichkeiten im Heiligtum zeugt, während es keine Anzeichen für eine etablierte Votivpraxis gibt. Die Umwandlung der Wohnhäuser in der Halbinsula zu einem Dionysosheiligtum könnte mit den Eigenheiten zahlreicher dionysischer Mysterienkulte verbunden werden. So gibt es auch in anderen antiken Poleis Beispiele für die Nutzung privater Räumlichkeiten bei Kultaktivitäten im Rahmen dionysischer Mysterien, oder Zusammenkünften von Kultvereinen. Denkbar ist, dass das Wohnhaus bereits der Vorsteher*in eines Kultvereins gehörte und Treffpunkt der Mitglieder war. Mit wachsender Popularität und zunehmender Öffnung der Dionysoskulte in der hellenistischen Epoche wurde es mit Ankauf des Nachbargrundstücks zu einem polisweiten Heiligtum umgewandelt, dessen lex sacra noch die Verbindung zu privaten und geschlossenen Kultvereinen demonstriert. Die Möglichkeit einer anderen Kultstiftung, bspw. durch einen hellenistischen Herrscher, wird ebenso diskutiert. Nach dem jetzigen Stand scheint keiner dieser beiden Interpretationsansätze zu bevorzugen zu sein, aber beide bieten eine gute Erklärung für den Funktionswandel. Der Kult des Dionysos Bakchios in Milet war ein Mysterienkult, der dank der oben erwähnten lex sacra und dem Grabepigramm der Alkmeonis zu einem der meistdiskutierten Dionysoskulte in der Ägäis gehört.
Das milesische Dionysosheiligtum ist nicht, wie zuvor angenommenen, der älteste Architekturbefund eines Dionysosheiligtums in Kleinasien. Für diese in den Vorberichten nur aufgrund angenommener Kultkontinuität am Ort postulierte These konnten keine Nachweise dargebracht werden, auch wenn es in Milet einen vor-hellenistischen Dionysoskult gegeben haben mag. Vielmehr fügt sich das Temenos mit seiner Errichtung im beginnenden 3. Jh. v. d. Z. hervorragend in den damaligen Zeitgeist ein, denn im Hellenismus erlangten die Dionysoskulte größere Beliebtheit, und so wurden viele Tempel und Heiligtümer in dieser Zeit erst errichtet bzw. gegründet. Auch im Kontext der Geschichte der Stadt Milet und ihrer Kulttopographie passt dieser Hergang besser zu den übrigen im Stadtgebiet zu beobachtenden Entwicklungen. So lässt sich anhand vieler Beispiele und insbesondere an der Fundverteilung zeigen, dass das nördliche Stadtgebiet in der archaischen Zeit weniger stark erschlossen war, und die "alten" Heiligtümer der Stadt - das Aphroditeheiligtum auf dem Zeytintepe, das Artemisheiligtum auf dem Kalabaktepe und das Athenaheiligtum am Theaterhafen - nach der Zerstörung Milets durch die Perser 494 v. d. Z. zwar nicht vollständig aufgegeben wurden, aber auch keine erneute Ausgestaltung in Form größerer Architektur erhielten. Diese Beobachtung passt zu dem später bei Isokrates überlieferten Schwur der Ionier, mit dem beschlossen worden sein soll, die von den Persern zerstörten Heiligtümer nicht wieder aufzurichten (Isokr. or. 4,156).
Nach diesem einschneidenden Ereignis, nach dem Milet laut Herodot "leer von Milesiern" gewesen sein soll (Hdt. 6,22), ist in der Stadtentwicklung ein deutlicher Unterschied zu fassen. Baumaßnahmen und die Einrichtung von Heiligtümern konzentrieren sich von da an sehr deutlich auf den Norden der Stadt und insbesondere um das eindeutig als politisches Zentrum fassbare Gebiet um die Prachtstraße, in dessen Umgebung sich auch die Halbinsula des Dionysosheiligtums befindet, deren Bebauungsgeschichte genau diese Entwicklung eindrucksvoll verdeutlicht. Mit dem Demetertempel auf dem Humeitepe, an dem sich vor dem 5. Jh. v. d. Z. keine Nachweise für ein Heiligtum finden, und dem Naiskos im Dionysosheiligtum werden am Beginn des 3. Jh. v. d. Z. zwei vergleichbare und reich geschmückte Tempel zu Ehren von bis dahin in Milet nur geringfügig repräsentierten Gottheiten errichtet. In der Betrachtung der Sakrallandschaft in zeigt sich so auch, dass Milet ab klassischer und hellenistischer Zeit eine fundamental andere Stadt gewesen sein muss, als das Milet der archaischen Epoche.
Aus dem Projekt hervorgegangene Artikel und Vorträge
- Das Dionysosheiligtum in der Sakrallandschaft von Milet, Poster am Research Day der Ruhr-Universität Bochum (02.05.2018, View / Download)
- A little suffering is good for the soul, Serie von vier Artikeln in L.I.S.A (Blog der Gerda Henkel Stiftung), Link zu Teil 1 (25.05-15.06.2019).
- The sanctuary of Dionysos in Miletus: the excavation of the ‘70s revisited (13.09.2019). Lecture at the Conference Sanctuaries and Cults in the Aegean from Early Historic Times to Late Antiquity (Ephorate of Antiquities of Lesbos)
- Ch. Berns – L. Steinmann, Milet: Kamusal Mekân Üzerine Güncel Araştırmalar (18.05.2021, YouTube, arkeolojihaber). Lecture at the Symposium İonia’da Yeni Arkeolojik Araştırmalar (Ege Üniversitesi, Izmir).
- Finds from Miletus XXXII: Clay Rings from the Sanctuary of Dionysos in Miletus, Archäologischer Anzeiger 2020/1, 2020, 93–119, doi:10.34780/aa.v0i1.1014.
- L. Steinmann, Das Dionysosheiligtum in der Sakrallandschaft von Milet (Dissertation Universität Hamburg 2023)
Rahmendaten
- Dauer: 2017-2020
- Projektleitung: Lisa Steinmann
- Drittmittelgeber: Gerda Henkel Stiftung