Hafenhalle, Nordmarkt und Sebasteion
Der sog. Nordmarkt und seine zugehörigen Bauten liegen inmitten des Stadtzentrums von Milet in der Löwenbucht. Hier nimmt die Platzanlage mit ihren weitläufigen Säulenhallen eine zentrale Position zwischen den umliegenden öffentlichen Monumentalbauten wie dem Delphinion, der Prachtstraße mit der Ionischen Halle und dem Südmarkt ein. Zugleich gehört die nördlich an den Markt anschließende Hafenhalle mit dem ihr vorgelagerten kleinen und großen Hafenmonument bereits zum Löwenhafen. Der sog. Nordmarkt bildet dabei einerseits ein in sich geschlossenes Bauensemble, auf dessen Funktion im Folgenden noch einzugehen sein wird. Anderseits kehren die direkt an ihn angrenzenden Hallenbauten ihre monumentalen Säulenfassaden nach außen und dienen als Kulissen und Funktionsräume für die Prachtstraße im Osten oder den Löwenhafen im Norden. So entsteht ein komplexes Wechselspiel zwischen dem Areal des Marktes und den umliegenden Stadtbereichen.
Die Entwicklungsgeschichte des Nordmarktes beginnt mit der Entstehung des langen, L-förmigen Gebäudes, das aufgrund seiner Nähe und Ausrichtung zum Löwenhafen hin als Hafenhalle angesprochen wird. Diese rund 136 m lange Säulenhalle dorischer Ordnung entstand im späten 4. Jh. v. Chr. und behielt ihre architektonische Form bis in spätantiker Zeit bei, als sie Teil der Stadtbefestigung wurde. Ihrer neuen Funktion entsprechend wurden die Säulenzwischenräume in dieser Zeit zugesetzt und ein Wachturm integriert. Heute können das erhaltene Fundament sowie in umliegenden Bauten wiederverwendete Architekturteile Aufschluss über die ursprüngliche Gestalt der Hafenhalle geben. Im rückwärtigen Teil der Halle lagen 65 Räume, die als Geschäfts- oder Lagerräume gedeutet werden können. Zur gleichen Bauphase wie die Hafenhalle gehört ein im Osten anschließender Peristylhof – ein Innenhof, der auf allen vier Seiten von Kolonnaden oder Säulenfronten umstanden ist – einschließlich angrenzender Räumlichkeiten. Der Hafenhalle und dem nahen Löwenhafen entsprechend wird für diesen Teilkomplex ebenfalls eine wirtschaftliche Funktion zugesprochen.
Um die Mitte des 2. Jh. v. Chr. wurde eine weitere L-förmige Säulenhalle in südlicher Richtung an die Hafenhalle angesetzt, die so eine Verbindung zum bis dahin isoliert stehenden sog. Gneisgebäude im Westen herstellte. Der Gneisbau ist ein älteres Gebäude in der Größe eines ganzen Häuserblockes (Insula), das noch bis in die Kaiserzeit genutzt und umgebaut wurde. Dem Bau wird eine politisch-administrative Funktion zugeschrieben. Mittig in die durch die Verbindung zwischen Gneisbau und Hafenhalle entstandene Westhalle des Nordmarktes wurde ein kleiner Tempelbau eingesetzt, dessen mit vier Säulen ausgestattete Front in Richtung des freien Platzes wies. Der Bau ragte aus der ansonsten gleichförmigen Hallenfassade hervor und wurde so prominent in Szene gesetzt, obwohl er in der Aufsicht regelrecht zwischen die im Westen, Norden und Süden angrenzenden Gebäude gequetscht erscheint. Mittig vor dem Tempel wurde im 1. Jh. v. Chr. ein Altar errichtet. Welche Gottheit hier verehrt wurde ist jedoch unbekannt. Die traditionelle Bezeichnung des ganzen Baukomplexes als Nordmarkt erscheint insgesamt fragwürdig, da das Ensemble aus Tempel, Altar, Freifläche und den sie rahmenden Säulenhallen große Ähnlichkeiten mit einem Heiligtum aufweist. Ferner war die Freifläche des sog. Nordmarktes der Aufstellungsort vieler Statuen und anderer kleinerer Denkmäler, die von seiner Bedeutung im öffentlichen Leben der Stadt zeugen.
In zwei weiteren Bauphasen wird zuerst die Ostseite des Nordmarktes im 1. Jh. v. Chr. zur Prachtstraße hin mit einer Mauer verschlossen, dann in der mittleren Kaiserzeit die einfache Begrenzungsmauer in eine prächtige Säulenhalle umgewandelt. Ab dieser Zeit war also die nun 87 x 50 m große Platzfläche des Nordmarktes allseitig von Säulenhallen umgeben und geschlossen. Die zuletzt eingefügte östliche Säulenhalle wurde auch nach Westen, zur Prachtstraße hin mit einer großen Säulenarchitektur ausgestattet und fungierte so parallel zur gegenüberliegenden Ionischen Halle als monumentale Rahmung der Prachtstraße. Wie die Ionische Halle wurde auch die westliche Säulenfront des Nordmarktes zur Straße hin mit schattigen Räumen ausgestattet und dürfte während der vom Delphinion ausgehenden Prozessionen eine ähnliche Funktion wie diese gehabt haben.
Im Süden des Nordmarktes führte bis in die Zeit des Kaisers Trajan eine Straße von Westen zur Prachtstraße. Mit dem Bau des sog. Sebasteions, das auch als Heiligtum einer unbekannten Gottheit angesprochen werden könnte, wurde diese Straße jedoch zugesetzt. Der nachträglich eingefügte Neubau füllte den gesamten Bereich zwischen der Südwand des Nordmarktes und dem Bouleuterion aus und war von der Prachtstraße aus zugänglich. Von Westen war der Nordmarkt ab dieser Zeit nur noch durch eine kleine Pforte erreichbar. An der westlichen Abschlusswand stand ein Tempel mit quadratischem Innenraum (Cella), in dem sich eine ca. 1,5 m x 1,5 m große Basis für das Kultbild befand. Die Front war einfach gestaltet, mit zwei Säulen zwischen vorspringenden Mauerzungen (Anten).
Text: Fabian Sliwka / Lisa Steinmann
Literaturhinweise
-
A. von Gerkan, Der Nordmarkt und der Hafen an der Löwenbucht, Milet 1,6 (Berlin/Leipzig 1922)
-
H.-U. Cain – M. Pfanner, Die Agora Milets in Kaiserzeit und Spätantike, in: O. Dally – M. Maischberger – P. Schneider – A. Scholl (Hrsg.), ZeitRäume. Milet in Kaiserzeit und Spätantike. Ausstellungskatalog Berlin (Regensburg 2009) 83—95
-
B. Emme, "Das Märchen von den drei Märkten“. Bauten merkantiler Funktion und die städtebauliche Entwicklung des hellenistischen Milet, IstMitt 63, 2013, 51–74
-
B. Emme, in: P. Niewöhner, Milet/Balat (Istanbul 2016) 56–58