Delphinion
Eine für Milet über lange Zeit wichtige Rolle nimmt das Heiligtum des Apollon Delphinios, das sogenannte Delphinion, ein. Es liegt am südöstlichen Rand der Löwenbucht, direkt an der Heiligen Straße und unmittelbar an die sogenannte Ionische Halle anschließend. Die lange Nutzung mit mehreren Restaurierungs- und Wiederaufbauphasen, beginnend in archaischer Zeit bis hin in die römische Kaiserzeit, bezeugt die Wichtigkeit des Heiligtums.
In seiner frühen monumentalisierenden Phase in der Spätarchaik (Ende 6. Jahrhundert v. Chr.) lässt sich der Baukomplex des Delphinion nicht genau rekonstruieren. Im Rahmen der Persereinfälle wird das Delphinion, sowie weite Teile Milets, 494 v. Chr. zerstört und erst einige Jahre später nach der Befreiung der Stadt um 479/78 v. Chr. wiederaufgebaut. Diese sich nun anschließende klassische Phase des Heiligtumes ist archäologisch besser fassbar. Der Neubau entstand auf der Fläche eines kompletten Häuserblocks (Insula) und zeichnete sich durch einschiffige Säulenhallen im Norden und Süden aus. Hinweise auf einen Tempel oder ein Kultbild fehlen für die vorhellenistischen Phasen des Heiligtums gänzlich. Die religiösen Handlungen scheinen sich ausschließlich auf den Apollonaltar konzentriert zu haben.
Deutlich später, nach der Eroberung durch Alexander den Großen, findet ein massiver Ausbau der Anlage nach Osten statt – sie umfasst nun zwei Insulae. Zu Beginn des 1. Jh. v. Chr. wurde, vermutlich für ein neu gestiftetes Kultbild, ein Rundbau in das Zentrum der Hofanlage integriert. Etwa zeitgleich wurde scheinbar der vorhandene Altar leicht gedreht und damit auf den Rundbau ausgerichtet.
Etwa drei Jahrhunderte später fand ein erneuter Umbau statt – die Hallen wurden abgetragen und auf erhöhtem Bodenniveau mit veränderten Maßen neu aufgestellt. Vermutlich eine erforderliche Maßnahme wegen des stark gestiegenen Grundwasserspiegels und der damit einhergehenden Überschwemmungen.
Die aktuelle Form des Heiligtums, die sich dem Besucher zeigt, ist die des späten, also kaiserzeitlichen, Bauzustandes. Die Anlage erstreckte sich zu einem großen, langgestreckten Rechteck auf der Fläche von zwei Häuserblöcken (Insulae) samt dazwischenliegender Straße. Von allen vier Seiten von Säulenhallen umschlossen, welche sich nach innen öffnen, weist es eine weite zentrale Platzanlage auf. Diese ist von der Westhalle über Treppenstufen erreichbar.
Die Reste des Apollonaltars sind besonders interessant. Einige Bauglieder befinden sich heute im Alten Museum in Berlin. Der erhaltene Unterbau besteht aus einer fast quadratischen Altarblockbasis, westlich davor ermöglicht eine Stufe den Zugang. Demnach trat man von Westen an den Altar heran und opferte in Richtung Osten. Um den Altar herum sind weitere Denkmäler aufgestellt gewesen.
Zwar erscheint die architektonische Gestaltung des Delphinions nicht besonders beeindruckend, doch gilt es als Hauptheiligtum Milets. Neben Apollon wurden hier noch einige weitere Gottheiten verehrt. Inschriften benennen das Delphinion als „prominentesten Ort der Stadt“ und zeichnen es somit als religiös-politisches Zentrum aus. Bestätigt wird diese Position zudem durch die Tatsache, dass am Delphinion die Heilige Straße begann und auch die Staatsprozession zum Apollontempel von Didyma ihren Anfang nahm.
Neben dem religiös-kultischen Charakter fungierte das Delphinion als Staatsarchiv, was die über 150 im Heiligtum gefundenen Inschriften belegen. Dokumente wie Beschlüsse und Verträge wurden hier veröffentlicht. Inzwischen ist außerdem bekannt, dass sich auch das Prytanaeion (Amtslokal der Stadtregierung) im Delphinion befand. Die vielseitigen Funktionen des Delphinions machen es neben einem kultischen Zentrum der Stadt auch zu einem hoch politisch-gesellschaftlichen Ort.
Text: Marieke Bohn
Literaturhinweise
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G. Kawerau – A. Rehm, Das Delphinion in Milet, Milet 1,3 (Berlin 1914)
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M. Taschner, in: P. Niewöhner (Hrsg.), Milet / Balat. Städtebau und Monumente von Archaischer bis in Türkische Zeit. Ein Führer (Istanbul 2016) 55-59