Ionische Halle
Wer heute durch das Stadtzentrum von Milet zwischen dem Südmarkt und dem Delphinion schlendert und dem Verlauf der antiken Prachtstraße folgt, bemerkt dort unweigerlich die beeindruckende Säulenhalle ionischer Ordnung, die Gegenstand zahlreicher Postkarten und Fotografien ist und als eines der berühmtesten Monumente Milets gelten kann. Die hier wiederaufgebauten Säulen entsprechen jedoch nur einem kleinen Teil der ursprünglich viel größeren Halle. Ein solch teilweiser aber effektiver Neuaufbau eines antiken Monuments wird häufig als Anastylose bezeichnet.
Die sog. Ionische Halle bildet den östlichen Abschluss der Prachtstraße und folgt ihr auf annähernd hundert Metern Länge in nord-südlicher Richtung. Die hohe Front der Ionischen Halle wartete in der Antike mit 35 statt den heute sichtbaren 4 großen ionischen Säulen auf. Dahinter in der schattigen Tiefe der Halle lagen 19 Kammern von verschiedener Größe. Durch rückwärtige Durchgänge in den zwei nördlichsten Kammern konnten die unmittelbar angrenzenden Thermen des Capito betreten werden. Das ebenfalls westlich angrenzende und ältere Hellenistische Peristyl hatte hingegen keinen Zugang zur Ionischen Halle und war klar von dieser abgegrenzt.
Bezüglich ihrer Funktion kann der Hallenbau also zumindest im nördlichen Teil als Vorhalle bzw. Eingangshalle der Thermen des Capito verstanden werden. Eine weitere funktionale Ebene ergibt sich aus der parallelen Lage zur Prachtstraße und dem Umstand, dass die Ionische Halle auf einen ungewöhnlich hohen, mehrstufigen Unterbau gesetzt wurde. In Anbetracht der auf der Prachtstraße durchgeführten Festprozessionen, die im nahen Delphinion ihren Ausgang nahmen, wird der Ionischen Halle eine Tribünen-, Sonnenschutz- und Kulissenfunktion zugeschrieben. Hier konnten sich die Zuschauer der Feierlichkeiten einfinden und im Schatten der emporgehobenen Halle dem festlichen Treiben auf der Straße zuschauen. Umgekehrt muss die emporgehobene Hallenfront mit ihren Säulen und dem darauf liegenden Gebälk von der Straße aus gesehen eine monumentale Wirkung auf die vorbeiziehenden Menschen gehabt haben. Es sollte jedoch angemerkt werden, dass die Ionische Halle auch abseits der periodisch durchgeführten Prozessionen diesen Zweck beibehielt. Ein mit Inschrift versehener Block des Hallengebälks und einige Parallelfunde identifizieren den Präfekten Cnaeus Vergilius Capito als Stifter sowohl der Ionischen Halle als auch der angrenzenden Therme des Capito. Beide Bauten wurden demnach um die Mitte des 1. Jh. n. Chr. errichtet. Im weiteren Verlauf des Jahrhunderts wurde die ursprünglich kürzer angesetzte Halle in zwei weiteren Bauphasen auf eine Länge von annähernd 100 m erweitert.
Text: Fabian Sliwka
Literaturhinweise
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W. Real – V. Rödel – M. Ueblacker, Milet 1972. Die Grabung auf der Heiligen Straße und die Anastylose der Ionischen Halle in Milet, IstMitt 23/24, 1973/74, 122–130
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M. Maischberger, in: P. Niewöhner, Milet/Balat (Istanbul 2016) 75–77