Speicherbau und Latrine
Mittig im Stadtzentrum, an der Westseite des großen Südmarktes, nördlich bis unter die Vierzig Stufen-Moschee, befindet sich ein Hallenbaukomplex von beträchtlichen Ausmaßen. Zwar ist das Mauerwerk nur niedrig erhalten, und lediglich etwa zwei Drittel der Anlage durch Ausgrabungen freigelegt, doch konnten mit Hilfe von gezielten Sondagen auch die nicht ergrabenen Teile rekonstruiert werden. Nach den Ergebnissen dieser Arbeiten misst der Hallenbau etwa 13,4 m x 163,4 m und überbaute mit dieser großen Ausdehnung drei Häuserblöcke (Insulae). Für das Nachvollziehen der einstigen Ausmaße wurden vor allem die Pfeilerstellungen auf der Mittelachse herangezogen. Untersuchungen an der Ornamentik einiger Bauglieder der Südwand ermöglichen eine Datierung des Baus in hellenistische Zeit mit einem Schwerpunkt im 2. Jh. v. Chr.
Die rekonstruierte Architektur zeigt, dass die Anlage als größtenteils geschlossener Baukomplex angelegt war. So war die Halle an allen vier Seiten von Wänden umgeben, von denen sich nicht viel mehr als die partiell vorhandene, marmorne Sockelzone erhalten hat. Innen und außen waren die Wände einfach und schmucklos mit Porosquadern und Kalkmörtel verputzt. Diese Schlichtheit zieht sich auch durch die weitere Gestaltung der Innenräume. Eine Reihe von Werksteinen wurden parallel zu den Langseiten der Wände angelegt. Die großen Ausmaße der Anlage führten im sich verdichtenden Stadtzentrum schließlich in römischer Zeit zu einer erzwungenen Umgestaltung. Die Verlängerung der Straße südlich des Bouleuterions, durch den Hallenbau hindurch, teilte diesen in zwei Teile. Der verstärkte Verkehr in diesem Stadtbereich musste mithilfe der ausgebauten sog. Bouleuterionsstraße kompensiert und damit der Hallenbau verkürzt werden. Durch diese und weitere urbanistische Entwicklungen verlor die kleine Gasse zwischen Speicherbau und Südmarkt ihre Notwendigkeit. Im Folgenden errichtete man an dieser Stelle eine öffentliche Latrinenanlage, deren Rinnen und Tonrohre sich teils erhalten haben.
Im Gegensatz zu der allgemein schlichten, schmucklosen Gestaltung des Hallenbaus, die sich im Westen auf das konstruktiv und bauphysikalisch Nötige beschränkt, zeigt die südliche Schmalseite ein anderes, prachtvolleres Bild. Die Fassade wurde gänzlich mit Marmor verkleidet, die architektonische Gestaltung war durch Nischen und Halbsäulen gegliedert. Zwei Wandpfeiler rahmen die Gebäudeecken ein. Dank einiger gefundener Architekturglieder kann die Fassade teilweise rekonstruiert und die Gebäudehöhe auf etwa 6,2 m eingegrenzt werden.
Grund für die hier deutlich prunkvollere Gestaltung wird ihre prominente Lage an einer Hauptverkehrsader Milets gewesen sein, da sie wegen fehlender Fenster und Türen nicht als Zugangsseite anzusehen ist. In Byzantinischer Zeit wurde die Südwand der Anlage in die neu gezogene Stadtmauer integriert. Doch zeigen die Fundlage einiger Mauerelemente, dass die Halle zu diesem Zeitpunkt schon aufgegeben und teilweise zerstört worden war.
Die schlichte und nutzungsorientiert gestaltete Architektur gibt eine reine Nutzfunktion des Baus vor, ohne dass dieser für Publikumsverkehr oder repräsentative Zwecke weiter ausgestaltet werden musste. So liegt der Schluss nahe, dass es sich um einen Speicherbau gehandelt habe. Dies wird durch die direkte Nähe zum Südmarkt und die geringe Entfernung zu den Häfen Milets noch bestärkt.
Text: Marieke Bohn
Literaturhinweise
-
H. Knackfuss, Der Südmarkt und die benachbarten Bauanlagen. Mit epigraphischem Beitrag von A. Rehm. Milet 1,7 (Berlin 1924)
-
M. Taschner, in: P. Niewöhner, Milet / Balat. Städtebau und Monumente von archaischer bis in türkische Zeit. Ein Führer (Istanbul 2016) 91-96
-
S. Feuser, Hafenstädte im östlichen Mittelmeerraum vom Hellenismus bis in die römische Kaiserzeit. Städtebau, Funktion und Wahrnehmung, Urban Spaces 8 (Berlin 2020)